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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 39


Was einstmals Einheit erhielt:
«Himmel erhielt Einheit, damit reinen Glast,
Erde Einheit, damit Ruh und Rast,
Geister Einheit, damit den Verstand,
Bäche Einheit, damit vollen Rand,
Alle Wesen Einheit, damit Leben,
Fürst und König Einheit, damit der Welt
das Richtmaß zu geben.»
Das bewirkt die Einheit.

«Gäbe nichts dem Himmel Glast,
Würde er zerschellen,
Gäbe nichts der Erde Rast,
Würde sie zerspellen,
Gäbe nichts den Geistern Verstand,
Würden sie zerfliegen,
Füllte nichts der Bäche Rand,
Würden sie versiegen,
Gäbe nichts den Wesen Leben,
Würden sie zerwallen,
Gäbe nichts Fürst und König Maß, so edel und hoch,
Würden sie doch fallen.»

Darum:
Das Edle macht das Geringe zu seiner Wurzel,
das Hohe macht das Niedrige zu seiner Grundlage.

Daher:
Fürsten und Könige nennen sich Verwaiste,
Wenigkeiten, Unwürdige.

Dies ist, weil sie das Geringe zu ihrer
Wurzel machen, oder nicht?»

Darum:
Fertige Wagenstücke sind kein Wagen.
Man wünscht nicht, hoch geschätzt zu sein wie Jade,
um zu fallen wie Stein.
 
 



 

Das vorige Kapitel zeigte, wie ohne Tao alle sittlichen Grundlagen auseinanderfallen und nacheinander schwinden, bis nur noch ein äußerliches Zeremoniell von zweifelhaftem Wert zurückbleibt. Warum das? Weil sie mit Tao das Band der Einheit verloren. Diese allein kann jene stufenweise Zersplitterung und Veräußerlichung verhindern. Darum wird nun die fundamentale Bedeutung der Einheit hervorgehoben. Die Eins oder die Einheit ist die Einheit der Wesenheit und als eine Wirkung Taos anzusehen.

Die Einheit verleiht dem Himmel seine eigentliche Wesenheit, als dasselbe Ganze reine Klarheit zu sein. Der entsprechende Vers der zweiten Strophe zeigt, wie an der Voraussetzung dieser Helle, d. i. an der Einheit, das Bestehen des Himmels selbst hängt: «Der Himmel, nicht habend, wodurch er hell ist, müßte, fürcht' ich, zerreißen», d. h. zugrunde gehen, welch allgemeiner Begriff durch die anderen sechs Reime der zweiten Strophe verschiedentlich spezifiziert wird. Die Erde erhielt Einheit, damit Ruhe, Fest- und Stillliegen. Ohne die Einheit, welche dies bewirkt, müßte sie zusammenstürzen.

Da die großen Weltmächte, Himmel und Erde, vorangenannt sind, so dürften unter den Geistern zunächst die Wesen der Geisterwelt, dann jedoch auch die Menschengeister zu verstehen sein; die Geister der unsichtbaren Welt werden als mit Intelligenz begabt angesehen; sie sind aber erst wahrhaft Geist durch die ihnen gesetzte Einheit; ohne diese müßte er enden, aufhören.

«Bäche», kleinere Flüsse, eigentlich Flußbett, Talgrund erhielten Einheit, damit Füllung, und würden ohne diese austrocknen. Die zehn-tausend Wesen erhielten Einheit, damit Leben; ohne sie würden sie auslöschen, zergehen. Fürsten und Könige erhielten Einheit, damit sie der Welt Richtmaß oder des Reichs Ordner sind. Der ent-sprechende Vers der zweiten Strophe scheint gelitten zu haben. Der Sinn verlangt: Hätten die Fürsten und Könige nicht, wodurch sie edel und hoch ein Richtmaß wären, also nicht die Einheit, so müßten sie stürzen, oder: Hätten sie nicht ein Richtmaß, würden sie doch, so edel und hoch sie sind, stürzen.

Wenn um jener Einheit willen die Edlen und Vornehmen das Geringe, d. i. das Volk, zu ihrer Wurzel machen, die Hohen das Niedrige als ihre Grundlage betrachten, so erkennen sie an, daß sie auch als Fürsten und Könige in einer Einheit mit dem gesamten Volk stehen, die eine wesentlich sittliche ist. Mit dieser Einheit und vermöge derselben sind sie als maßgebendes Zentrum gesetzt, und die Bewahrung dieser Zentralität in der sittlichen Einheit verbürgt ihnen die Dauer ihrer äußerlichen Stellung. Ohne diese, an und für sich, sind sie wie jeder Geringste.

Dies erkannte der alte Brauch der Könige und Fürsten an, zu welchem das Schu-King Belege gibt und wonach sie die eigene Person den Verlassensten und Geringsten gleichstellen, damit aber gerade das Bewußtsein jener Einheit bezeugen, in welcher sie auch mit allen Niedrigen und Geringen stehen, aus denen sie hervorgegangen sind und auf die sie sich stützen.

Die fertigen Teile des Wagens sind noch kein Wagen, d.h. der Stoff, das Material, wenn auch vereinzelt schon für seine Bestimmung formiert, wird das, was es sein soll, nicht, ohne daß die Idee der Einheit sich in ihm und an ihm verwirklicht. Denn die Einheit ist es, welche das, was ohne sie die Dinge an sich sind, welche deren Stoff erst in das Wesen bringt, das an sich Wertlose und Nichtige erst zu etwas Tauglichem und Würdigem macht.

Der ganze prosaische Teil des Kapitels bezieht sich auf das, was in den Versen von Fürsten und Königen gesagt ist. Wenn sie kraft der Einheit ihrer sittlichen Persönlichkeit als maßgebendes Zentrum sich mit ihrem Volk zusammenschließen und so die sittlich-politische Einheit des Ganzen herstellen (aus Wagenstücken einen Wagen machen), dann werden sie ohne ihren Willen, ohne ihr Verlangen so hoch und edel geschätzt wie seltene, kostbare Jade. Geht aber ihr Wille und Verlangen ohne das Geringe als Wurzel, d. h. ohne Einheit, auf dieses Ziel, dann werden sie, so geehrt und erhoben sie sind, doch fallen wie Stein. Darum wünschen Fürsten und Könige nicht, hochgeschätzt zu sein oder sich hochzuschätzen, sondern nennen sich Verwaiste, Wenigkeiten und Unwürdige.

 
 
 

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